Berlin:

Grußwort von Europa-Staatsminister Michael Roth anlässlich des Internationalen Holocaust-Gedenktages am Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma

— es gilt das gesprochene Wort —
Heute haben sich wieder viele Freundinnen und Freunde, Mitstreiterinnen und Mitstreiter am Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma versammelt. Das freut mich sehr! Einen möchte ich ganz besonders begrüßen: Zoni Weisz. Ich erinnere mich noch gut an Ihre sehr persönliche und aufwühlende Rede, die Sie heute vor acht Jahren anlässlich des Holocaust-Gedenktages im Deutschen Bundestag gehalten haben.

Damals haben Sie eindrücklich erzählt, wie Sie als siebenjähriger Sinto Diskriminierung, Entrechtung und Verfolgung erlebt haben.
Nur knapp entgingen Sie damals selbst der Deportation. „Ich war allein. Als Kind von sieben Jahren hatte ich alles verloren und fiel in ein tiefes Loch.“ Was kann es schlimmeres geben, meine Damen und Herren?
Zoni Weisz hat uns seine Geschichte erzählen können. Jeder, der einmal einem Holocaust-Überlebenden zugehört hat – fassungslos, erschrocken, berührt – wird mir zustimmen: Das vermag kein Buch, kein Film, kein Theaterstück zu vermitteln. Wir können so dankbar sein, dass sie uns, solange sie es noch können, an die grausame Wirklichkeit des Holocaust erinnern.
Der heutige Tag ist aber auch ein Tag der Spurensuche: 500.000 Sinti und Roma wurden in der Zeit des Nationalsozialismus grausam ermordet oder sie starben an Hunger, Entkräftung, Krankheit oder den Folgen der Folter. Das sind 500.000 Lebensgeschichten und Einzelschicksale, die nicht mehr erzählt werden können. In vielen Fällen sind nicht einmal die Namen der Opfer bekannt. Wer waren sie? Welche Spuren haben sie hinterlassen?
Es schmerzt mich, dass der Völkermord an den Sinti und Roma in der breiten Öffentlichkeit weiterhin viel zu wenig bekannt ist. Wir sprechen deshalb zu recht immer noch vom „vergessenen Holocaust“. Das Mahnmal, vor dem wir heute stehen, ist aber nicht nur Mahnmal gegen das Vergessen. Es soll uns auch ein Auftrag für die Zukunft sein.
Dieses Denkmal mahnt uns, unserer Verantwortung auch heute und morgen gerecht zu werden. Unsere Geschichte ist uns Verpflichtung, – nicht nur in Deutschland, sondern weltweit – gegen Hass und Ausgrenzung, gegen Intoleranz und Rassismus, gegen Diskriminierung und Stigmatisierung einzutreten.
Viele Vorurteile, die die Nationalsozialisten mehr als ein Jahrzehnt lang kräftig geschürt hatten, sind auch mehr als sieben Jahrzehnte später immer noch nicht ganz verschwunden. Oftmals stehen die Sinti und Roma diesen Stereotypen wehrlos gegenüber. Manchmal ist es nur Gedankenlosigkeit, Nachlässigkeit oder Desinteresse, die dazu führen, dass Sinti und Roma mit abfälligen Äußerungen bedacht werden.
Oft ist es aber auch Bösartigkeit und bei tätlichen Angriffen sogar blinder Hass, der ihnen entgegenschlägt. Dazu kommen deutlich schlechtere Startchancen in der Gesellschaft, in der Schule, auf dem Arbeitsmarkt, im Gesundheitssystem. Das muss sich dringend ändern! Vor allem: Wir müssen uns ändern – jede und jeder Einzelne muss sich beständig prüfen und Vorurteile, antiziganistische Prägungen aus seinem Denken und Wortschatz tilgen.
Aber es gibt auch Lichtblicke: Besonders freue ich mich, dass mit dem Europäischen Roma Institut for Arts and Culture – ERIAC – hier in Berlin ein Ort geschaffen wurde, um die Kultur der Sinti und Roma zu pflegen und sie einer breiten Öffentlichkeit näher zu bringen.
Ebenso vom Auswärtigen Amt gefördert wird das RomArchive, das vor einigen Tagen feierlich eröffnet wurde: ein internationales digitales Archiv für Kunst der Sinti und Roma. Es richtet sich nicht nur an Europas größte Minderheit, sondern vor allem auch an Europas Mehrheitsgesellschaften. Auf diese Weise will das Projekt den hartnäckig bestehenden Vorurteilen und Stereotypen entgegentreten.
Dankbar bin ich unserem Bundespräsidenten, der am Dienstag erstmals zu einem Abend ins Schloss Bellevue einlud, in dessen Mittelpunkt Kunst, Literatur und Musik der europäischen Sinti und Roma stand. Was für ein schöner, wichtiger Abend! Wir brauchen nämlich Beides: Erinnerung und Gedenken an den Völkermord und seine Opfer.
Aber eben auch positive Geschichten und Vorbilder. Es ist nach wie vor notwendig, über Diskriminierung und Ausgrenzung zu sprechen. Aber lassen Sie uns eben auch erzählen, wie Sinti und Roma unsere Gesellschaft bereichern und inspirieren. Lassen Sie uns stolz sein auf diejenigen, die in der Kultur, in den Medien, der Wirtschaft und der Politik ihren Beitrag leisten. Es sind immer noch viel zu wenige. Ich bin dankbar, dass inzwischen Roma für das Europäische Parlament kandidieren und hoffentlich auch bald erfolgreich für den Deutschen Bundestag. Sinti und Roma gehören zu uns. Und wir sind dankbar dafür.
Ich wünsche mir, dass uns die heutige Gedenkstunde Mut macht, gemeinsam an einer Gesellschaft der Vielfalt und des Respekts zu arbeiten. Hass, Ausgrenzung und Intoleranz haben bei uns keinen Platz! Das schulden wir unserer Geschichte. Das schulden wir uns selbst. Das schulden wir den 500.000 Sinti und Roma, die dem Holocaust zum Opfer gefallen sind.

Quelle:auswaertiges-amt.de

Von redaktion